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Kann sein, muss aber nicht.

 (Thomas Nast)

 

Ein Ex-Kumpel bezeichnete mich mal als den „Dagegenmann“. Ich halte es für eine gute Eigenschaft, sich Beschimpfungen zu eigen zu machen. Die St.-Pauli-Fans stimmen lauthals mit ein, wenn „Scheiß St. Pauli!“ gerufen wird, was die Beschimpfer noch dämlicher aussehen lässt, als sie es als Dresdner, Rostocker oder Bielefelder eh schon taten. St. Paulianer bezeichnen sich mittlerweile selbst als Zecken. Ich bin halt der Dagegenmann. Und das ist okay für mich. Natürlich vereinfacht der Ausspruch meinen komplexen Charakter mit den vielen bunten Eigenschaften eines Individiums ein kleines bisschen, was dem einfachen Geist des Urhebers entspringt und entspricht, aber komplett Unrecht hat er auch wieder nicht.

 

Immer, wenn alle ins gleiche Horn blasen, werde ich misstrauisch. Es ist doch nichts sicher. Fast immer gibt es eine zweite Möglichkeit. Ich war schon immer ein Skeptiker und eine glückliche Fügung ließ mich in der Schule den Wert einer gegenläufigen Meinung entdecken, anstatt zu lernen, wie man sich selbst glattbügelt, um Erfolg zu haben.

 

So bekam ich meine guten Noten in Deutsch für mein Misstrauen. Alle überschlugen sich, wenn der Lehrer die Bälger geschlossen in die vermeintlich richtige Richtung getrieben hatte, sodass sie das rote Haus auf dem Schulweg des Protagonisten mit der Periode der zickigen Mutter des Schriftstellers in Verbindung brachten. Alle dachten „Ahhhhh, ja, das klingt plausibel“, bis der Dagegenbub kam und meinte: „Kann sein, muss aber nicht.“

 

Dass der Autor vielleicht einfach ein Haus beschreiben wollte und auf dem Weg zum Bäcker um die Ecke nun einmal ein rotes herumstand und kein grünes, könnte doch auch sein.

 

Natürlich hatte ich Glück, dass das bei Herrn Stiasny ankam. Dafür Dank und Respekt im Nachhinein. Gibt genug autoritäre Lehrer, die keine andere Meinung oder solche Freigeister dulden mögen, und ganz ehrlich, das kann ich verstehen: Als Halbwüchsiger neigt man allgemein und in der Pubertät im Besonderen zu Übertreibungen und im Nachhinein war ich ein nässendes Furunkel am Arsch meiner Lehrer, was zu allem, was sie sagten, eine gegensätzliche Meinung vertrat.

 

 

Aber beim Deutschlehrer der siebten Klasse kam das an. Etwas Glück kann man ja auch mal haben, wenn man schon in der hessischen Provinz aufwächst.

 

 

Und seitdem schaue ich immer, ob ich nicht auch eine andere Haltung einnehmen kann, als alle anderen. Manchmal ist das nicht möglich, z.B. wenn es um die Frage geht, ob Donald Trump ein netter Mensch ist, der intelligent genug rüber kommt, dass man ihm einen Job als Paketfahrer zutrauen würde. Da sind wir uns wirklich alle einig, denke ich, wobei die Anmerkung gestattet sein muss, dass ich praktisch allen DHL-Fahrern die Befähigung ebenfalls abspreche.

 

 

Wenn es aber – wie momentan – einmal mehr dazu kommt, dass viel zu Viele ins gleiche Weltuntergangshorn blasen, kann ich mich wieder mal querstellen.

 

 

Ja, es ist schrecklich. Trump ist ein Rassist, ein Macho und ganz allgemein ein Arschloch. Er ist widerlich. Aber wenn wir ehrlich sind – das ist Hillary Clinton auch, außer vielleicht in Bezug auf das Machoding ... ich würde mich diesbezüglich aber nicht festlegen wollen.

 

Hillary Clinton ist eine Hexe. Im Mittelalter hätte man sie zur Kaiserin gekrönt oder verbrannt. Heutzutage wird sowas Präsident der Vereinigten Staaten ... fast. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich über ihr Versagen gräme.

 

 

Vielleicht sind wir uns sogar einig, dass fast alle Politiker so sind. Nur, weil es bisher im Wahlkampf nicht vorkam und sich alle bei öffentlichen Auftritten fein benommen haben, heißt das doch noch lange nicht, dass sie hintenrum nicht mauscheln, kungeln und betrügen. Durch die E-Mail-Affäre wissen wir doch eigentlich ganz genau, wes Geistes Kinder Frau Clinton und ihre Kollegen sind.

 

Also, für mich war es die Wahl zwischen Pest und Cholera, und wenn man es so betrachtet, wird doch ein Schuh aus dem Ausspruch: „Donald Trump ist zwar ein Macho, Rassist und ungehobelt, aber er spricht die Sprache der einfachen Leute.“

 

Das ist der Punkt. Aus dem gleichen Grund wählten die Italiener immer und immer wieder Berlusconi. Die Wähler ahnen, dass alle Politiker gleich sind und dann wollen sie doch lieber einen, der wenigstens nicht so tut, als wäre er ein Engel, während er hintenrum Krieg anfängt, um Firmen von Verwandten Zugang zu billigem Öl zu sichern.

 

Trump wirkt dämlich, tumb und einfach gestrickt. So wie die meisten Amis.

 

 

Hillary Clinton dagegen ist eine gewiefte, vernetzte Politikerin. Für mich ist das eine Beschimpfung, die in meiner nach oben offenen Entrüstungsskala weit höher angesiedelt ist als „HSV-Fan“ oder „FDP-Wähler“.

 

Allein schon, dass sie die Frau eines Ex-Präsidenten ist, ist für Deutsche doch völlig absurd. Bei uns gibt es so etwas nicht. In Amerika ist man dergleichen gewohnt und wundert sich nicht mehr, wenn der Sohn der übernächste Präsident wird oder eben die Ehefrau. In Amerika herrscht seit Jahrhunderten eine politische Kaste, die Clinton wie niemand sonst verkörpert. Und in diese Welt kommt ein Quereinsteiger, den das Establishment verhindern wollte, aber nicht konnte. Allein das macht Trump verführerisch. Dass so einer von der ängstlichen, desillusionierten weißen Unterschicht gewählt wird, ist für mich überhaupt nicht unverständlich.

 

Verloren hat die Wahl das politische Establishment. Zwei Kandidaten haben gegen die seit Jahrhunderten regierende politische Kaste gekämpft, und während die Demokraten Bernie Sanders abschmettern konnten, kam bei den Reps Trump durch und wurde nun auch gewählt.

 

Die Politiker und Lobbyisten arbeiten seit Jahrzehnten auf einer abgehobenen Ebene so gut zusammen und haben den Kontakt zur Basis so umfassend verloren, dass sie auch die Macht verlieren konnten. So etwas geht nur über Populismus, und dann gewinnt leider meistens ein Rechter. Hätte auch Bernie Sanders sein können, aber das haben die Demokraten verpatzt, und nun muss es Amerika ausbaden.

 

Und ich schaue mir das interessiert an. Niemand weiß wirklich, was passieren wird, und ich habe Hoffnung.

 

Trump selbst sagte gerade erst: „Es ist jetzt anders, ich möchte ein Land, das sich gegenseitig liebt“, und interessanterweise beantwortete er die Frage, ob er im Wahlkampf zu weit gegangen sei, mit: „Nein, ich habe gewonnen.“

 

Das könnte bedeuten, dass er einfach – wie alle anderen Kandidaten – alles getan hat, um zu gewinnen, und dass die Karten jetzt wieder neu gemischt werden.

 

 

Mir ist bewusst, dass Kritik an Lobbyisten und die Rede von einer politischen Elite an Verschwörungstheorien erinnert, und dass die Rechten auch so etwas sagen. Da liegt eines der großen Probleme im Umgang mit den neuen Rechten. Natürlich haben die AfDler auch Punkte, an denen sie berechtigte Kritik üben. Sie ziehen nur die falschen Schlüsse. Bestes Beispiel: "Mir geht´s schlecht. Wer ist Schuld? Der, der als Letztes gekommen ist." Das ist dumm.

 

Aber schlecht geht es den Leuten, die soziale Ungerechtigkeit kann man doch nicht wegreden, und wenn daran nichts getan wird, wählen sie konfus.

 

Nicht falsch verstehen – ich hätte Trump nicht gewählt.

 

Es ist entwürdigend und peinlich für Amerika, solch einen Repräsentanten zu haben, wenn er sich nicht um 100% dreht, und für Farbige und Schwule und Lesben, eigentlich für alle Randgruppen, wird die nächste Zeit definitiv nicht leicht. Auch mir wäre es lieber gewesen, Clinton hätte gewonnen, als geringeres Risiko, aber ob Amerika weniger rassistisch geworden wäre, weiß ich nicht.

 

Amerika ist durch und durch rassistisch. Daran konnte noch nicht einmal ein farbiger Präsident etwas ändern.

 

 

Schwarze sind zweite Wahl. Sie verdienen weniger, sind doppelt so häufig arbeitslos und wandern in Situationen, in denen Weiße freigesprochen werden, ins Gefängnis.

 

Schwarze verdienen weniger und selbst die Reichen sind weniger reich. Oprah Winfrey erreicht auf der Liste der vermögendsten Amerikaner als reichste Afroamerikanerin nur Platz 214.

 

Das alles konnte auch Obama nicht ändern. Die meisten Werte sind sogar noch schlechter geworden. Naja, Oprah hat noch ein paar hundert Millionen dazu verdient und ist um einen Platz geklettert, aber Ausnahmen bestätigen da wohl die Regel, und sie kommt nun auch aus dem Showbusiness, mit dem Sport die einzige Branche, in der die Schwarzen oben mitmischen – als Hofnarren.

 

 

Amerika hat ein ganz großes Rassimusproblem, und Trump ist nicht rassistischer oder machomäßiger als alle anderen republikanischen Kandidaten vor ihm. Er sagt es halt nur laut. Seinen Wählern gefällt das. Den einen tatsächlich, weil es rassistisch ist, aber vielen auch einfach, weil das ihr Leben widerspiegelt.

 

Und: Die Reichen bescheißen nun einmal mit den Steuern. Das wissen doch die Hinterweltler aus Ontario genauso wie wir, und irgendwie gefällt es, dass er eben nicht lügt.

 

Er ist anders und das ist es in erster Linie das, was die Wähler wollten. Raus aus dem ewig währenden Trott, raus aus der Dominanz der Eliten.

 

Ja, es ist die falsche Richtung, aber vielleicht ist das „Raus“ wichtiger als die Richtung ...

 

Kann sein, muss aber nicht – und ich bin heilfroh, dass ich das von außen aussitzen kann und nicht entscheiden muss.

 

 

Vielleicht geht die Welt unter. Putin, Erdogan und Trump veranstalten ein zünftiges Pimmelfechten, was aufgrund der beachtlichen Kürze der Gemächte dann doch lieber mit Atomwaffen ausgetragen wird. Vielleicht gibt es blutige Rassenkriege und Amerika brennt, wie es die Pessimisten voraussagen.

 

Wer weiß. Manchmal hatte mein Deutschlehrer Herr Stiasny auch recht. Es sind nicht alle Literaturinterpretationen falsch, auch wenn ich als Dagegenfurunkel grundsätzlich dagegenredete. Kafka hatte einen despotischen Vater und nur deshalb wurde die Schabe in „Die Verwandlung“ vom Vater umgebracht.

 

Mit Äpfeln, was eine biblische Bedeutung haben kann, oder eben nicht.

 

Die Welt ist nicht schwarz und weiß, und die Medien sind momentan keine wirklich große Hilfe.

 

 

Vielleicht wird mit der Dumpfbacke auch alles ganz okay, er lehnt TTIP ab, hält sich aus ein paar Kriegen raus, arbeitet brav gegen das Establishment und die USA werden zwar nicht weniger rassistisch, aber eben auch nicht mehr, weil er die Hunde zurückpfeift, die er losgelassen hat, um Präsident zu werden.

 

Kann sein, muss aber nicht.

 

 

Niemand weiß das. Was wir aber wissen, ist, dass wir den Leuten hier in Deutschland, die von der lobbyismusdominierten Politik weg wollen, nicht nur die AfD als Alternative lassen dürfen. Denn das war es in Amerika. Es gab das „alles wie immer“ und es gab den Anderen. Und der Andere hat gewonnen.

 

Wenn das mal keine deutliche Warnung ist, weiß ich es auch nicht ...

© Thomas Nast

 

Warum Landleben 

(Helene Bockhorst)

 

Viele Verhaltensweisen meiner Mitmenschen kann ich nicht nachvollziehen. Ich schaue sie mir an und frage mich: Warum? In letzter Zeit taucht häufig ein großes Warum in meinem Kopf auf, wenn mir Menschen freudestrahlend erzählen, dass sie aufs Land ziehen werden. Warum Landleben? Ich verstehe es nicht. Selber habe ich 18 quälende Jahre auf dem Dorf verbracht. Irgendwie habe ich es geschafft, da rauszukommen, und freue mich jeden Morgen nach dem Aufwachen darüber, dass ich keine Gülle mehr riechen muss und nicht mit dem Sohn des Nachbarbauern verheiratet worden bin.

 

Mit dem gleichen ungläubigen Entsetzen, mit dem Menschen mit Handicap jene Fetischisten betrachten, die sich freiwillig Gliedmaßen amputieren, um daraus einen zweifelhaften Lustgewinn zu schöpfen, muss ich nun mit ansehen, wie ehemals intelligente, kulturell interessierte Menschen ihre schicken Stadtwohnungen verlassen und in Reihenhäuser in der Peripherie ziehen. In diesen steingewordenen Alpträumen wollen sie verharren, bis sie sterben. An ihrer Stelle könnte mir das gar nicht schnell genug gehen.

 

Neulich bin ich zu einer Geburtstagsfeier auf dem Land gegangen. Die Gastgeberin hatte sich erst vor kurzem für ein reizarmes Leben jenseits des letzten infrastrukturellen Knubbels am Arsch von Hamburg entschieden. Und dabei hat sie noch nicht einmal Kinder, was ja sonst die Nummer eins der bescheuertsten Ausreden ist, warum jemand aufs Land zieht. Es sei besser für die Kinder. Dass ich nicht lache. Wer ernsthaft glaubt, auf dem Land wären die Chancen besser, ein psychisch gesundes Kind großzuziehen, muss sich nur mich anschauen und weiß alles, was es über diese Theorie zu wissen gibt.

 

Nachdem unsere Freundin sich einige Hühner angeschafft und Gartenmöbel aus Europaletten gezimmert hat, möchte sie nun andere in diese Sache mit reinziehen und hat deswegen groß eingeladen. Ein Bahnticket zu ihr kostet stolze 16 Euro. Wir fahren bis zu einem Ort namens “Wrist” und müssen anschließend einen Bus nehmen, der bis zu einer Haltestelle fährt, die nach einer Tankstelle benannt ist. Aber dort gibt es gar keine Tankstelle. “Hat sich nicht gelohnt”, murmelt ein verwittert aussehender Mann in Gummistiefeln, als ich meine Verwunderung kundtue.

 

Danach wandern wir endlos durch die öde Weite der Landschaft, weil diese Gegend bedauerlicherweise nicht über zuverlässige Nahverkehrsangebote verfügt. Hier und da finden sich ein paar uninspiriert hingestreute Gebäude. Ich bin der inzestuösen Dumpfheit des Dorflebens schon lange genug entronnen, um das alles als äußerst exotisch wahrzunehmen, und mache unzählige Fotos von den Kritzeleien in den verlassenen Bushäuschen und den folkloristischen Dekorationselementen in den Vorgärten. Einige Gardinen bewegen sich, weil die Anwohner mich dabei beobachten, wie ich sie beobachte. Mein Mann schämt sich ein bisschen für mich.

 

Endlich haben wir unser Ziel erreicht und ich muss entsetzt erkennen, dass es sich um eine Gartenparty handelt. Eine Gartenparty! Es ist fucking Oktober! Menschen in Gummistiefeln und hässlichen Daunenwesten stehen dicht gedrängt auf der Terrasse. Gefühlt einhundert Kinder in wattierten Overalls wälzen sich schreiend auf dem Rasen herum. Ich habe ein transparentes Oberteil an und friere wie die Hölle. Außerdem weiß ich nicht, was ich mit der herumlungernden Landbevölkerung reden soll.

 

Unauffällig ziehe ich mich ins Haus zurück. Als ich auf Toilette gehen will, stelle ich fest, dass ich die Tür nicht abschließen kann, weil es keinen Schlüssel gibt. Aber klar, das ergibt Sinn, auf dem Land sind ja eh alle verwandt, warum sollte man da noch die Badezimmertür abschließen?! Es dauert nicht lange, da kommen mich ein kleiner Junge und ein Mann auf der Toilette besuchen. Das Kind erschreckt sich fürchterlich und fängt an zu heulen.

 

Ich koche neuen Kaffee, um eine Ausrede zu haben, warum ich noch ein bisschen drinnen bleibe. Fasziniert entdecke ich, dass in der Küche an der Pinnwand mehrere Zettel mit handschriftlichen Wegbeschreibungen hängen. Warum? Wozu gibt es Google Maps?

 

Wenig später will ich ein Foto dieser vorsintflutlichen Relikte auf Facebook posten und weiß warum. “Wir informieren dich, sobald dein Beitrag bereit ist!”, steht da. Oh. Mein. Gott. Es gibt hier kein mobiles Internet! Was soll ich denn jetzt machen?!

 

Wie in Trance koche ich unzählige Kannen Kaffee, bis die Gastgeberin hereinkommt. “Und, gefällt es dir?”, fragt sie.

 

Es gibt so vieles, was ich ihr sagen möchte. “Warum bist du aufs Land gezogen? Warum nur?!? Was versprichst du dir davon? Künftig wirst du unzählige Kilometer Auto fahren müssen, wenn du ein Päckchen Vanillezucker kaufen willst. Du wirst nie wieder ins Theater oder ins Kino gehen. Jetzt nimmst du es dir zwar vor, aber nach ein paar Monaten in der Gülle wirst du geistig so abgeschnallt haben, dass du zu träge für einen Ausflug in die Stadt bist, und dir wird auch nichts fehlen. Du wirst auf ewig ‘Die Zugezogene’ sein, weil du die einzige in diesem Kaff bist, deren Eltern nicht blutsverwandt miteinander und mit dem Bürgermeister sind. Du hangelst dich von einem Schützenfest zum nächsten und wartest darauf, dass etwas passiert, aber es wird nie etwas passieren, jedenfalls nichts Schönes. Vielleicht wird mal jemand vom Trecker überfahren oder der Schweinestall des Nachbarn brennt ab und es riecht drei Tage lang nach Bacon, aber das war es auch schon.”

 

Natürlich sage ich das nicht laut. “Ja, nette Party!”, sage ich. Bald darauf gehen wir. Es ist immerhin schon fast 19 Uhr.

 

Auf dem Land findet man eine ganze Reihe von Lebewesen, Naturphänomenen und Situationen, die es in der Stadt nicht gibt und die kein Mensch braucht. Warum sollte irgendjemand auf dem Land leben wollen? Auf diese Frage habe ich bisher keine zufriedenstellende Antwort gehört. Es bleibt rätselhaft.

©Helene Bockhorst

 

Alles in meinem Kopf

(Armin Sengbusch)

Das Leben ist ja schon ausgesprochen verrückt. Ich für meinen Teil wäre gern nicht geboren worden. Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber angesichts meiner zahlreichen psychischen Defizite ist das dann auch wieder verständlich. Meistens hebt nun einer meiner Lesebühnenkollegen den Finger und erklärt, dass es in meinem Fall auch optische Defizite gibt. Das mag sein, aber ich habe ja schon erwähnt, dass ich nicht gern geboren worden wäre – die Gründe überlasse ich jedem selbst. Das Dumme ist nur, dass ich es ja vor der Geburt nicht artikulieren konnte und jetzt, da ich es kann, ist es zu spät.

Vielleicht.

Ich bin ein ungewolltes Kind, das dann auch noch adoptiert und schließlich Künstler wurde. Meine Eltern haben deshalb mehrfach versucht, mich umzubringen, aber dann habe ich den Fön versteckt und mittlerweile benutze ich ihre Badewanne nicht mehr. Der Wunsch, ungeboren zu sein, steckt also nicht nur in mir.

 

Ich habe aus diesen und verschiedenen Gründen damit begonnen, mir eine eigene Welt aufzubauen. Mit dem Anfangen ist das ja auch immer so eine Sache. Gerade wenn man sich etwas vorgenommen hat, um es auch in die Tat umzusetzen, dann braucht man einen wirklich guten Start. Vor allen Dingen dann, wenn man sich eine Welt aufbauen möchte. Und in jedem Anfang soll ja ein Zauber wohnen, das hat Hermann Hesse gesagt. Oder Gandalf.

Nein, der hat gesagt, dass in jedem Anfang ein Zauberer wohnt. Oder irgendein andere Esoteriker. Aber die Hauptsache ist, man fängt mit etwas an, bevor man den Gedanken daran verwirft. Bei mir ist es oft so, dass ich eine tolle Idee habe, sie aber nicht bis zur Umsetzung bringe, weil mich nur der Gedanke fasziniert, nicht aber die Tat. Mental laufe ich zum Beispiel jeden Morgen einmal um die Alster. Ich schaffe es mittlerweile auch, bei diesem Gedankenlauf zu schwitzen. Am nächsten Tag habe ich oft Knieschmerzen, meine Kondition hat sich aber deutlich verbessert. Ich kann jetzt viel länger denken, dass ich laufe. Und manchmal bewege ich dann sogar die Zehen im Takt.

 

Oder das Einkaufen. Ich weiß, was ich brauche, ich habe einen genauen Plan, manchmal ziehe ich mir dann auch schon die Schuhe an, aber wenn ich dann an der Kasse bin, dann lege ich mich wieder hin. Das passiert alles in meinen Gedanken. Wobei ich mich vor einigen Tagen mal direkt an einer Supermarktkasse hingelegt hatte, weil ich mir das alles gar nicht gedacht hatte, sondern ausnahmsweise wirklich unterwegs war.

 

In meinem Kopf laufen Filme ab, da setzt sich dann alles zusammen, da schmeckt dann Poppenbüttel plötzlich wie New York und Gurken sind die neuen Gemüsechips. So stand es im Abendblatt. Ich merke mir das alles und setze es an den Stellen zusammen, die mir passen. Das passt nicht immer, aber es ist ja meine Welt, meine Show. Hier kann ich tun, was ich nicht tun will. Und das klappt natürlich nie, aber in Gedanken bin ich fertig und der Meister aller Klassen. Wobei ich gern Zweiter werde, dann wundere ich mich nicht, warum ich keine Preise im Regal habe. Wenngleich ich gar keine Regale habe, denn die meisten Bereiche meiner Wohnung habe ich mir nur ausgedacht.

 

Mit dem Schreiben von Texten ist das ähnlich, da bin ich im Geiste schon längst fertig, bevor ich überhaupt den Rechner eingeschaltet habe. Warum soll ich das alles also noch aufschreiben? Dabei ist es ja nicht so, dass ich prokrastiniere. Ich breche ja nichts ab, ich fange nur eben nicht erst an, weil ich in Gedanken schon fertig bin. Ich habe schon viele Romane geschrieben und veröffentlicht, die noch kein Menschen gelesen hat, weil sie nirgendwo erschienen sind. Deswegen war ich auch schon mit vielen Frauen zusammen, habe aber nur EINEN Sohn. Ich denke mir meinen Teil. Auch Sex kann in der Realität gar nicht so toll sein, wie ich ihn mir ausdenke. Kopfkino eben. Ich war also auch gar nicht mit vielen Frauen zusammen. Und wenn, dann auch nur in meinem Kopf. Und auch das endet schnell wieder, weil ich fertig werden will, bevor ein wichtiger Gedanke eintrifft, damit ich wieder etwas Neues anfangen kann. Eine schnelllebige Welt in mir, das kennen wir ja aus der Realität. Wobei ich behaupte, dass ich vor der Realität da war.

 

Ich bin dadurch auch ein perfekter Amoläufer, ich lasse niemanden am Leben und ich habe nur aufrichtige Motive. Natürlich keine christlichen, sondern monetäre oder humanitäre Motive. Das Senken der Weltbevölkerung ist ein sehr verständlicher Ansatz für einen Amoklauf. Oder einen Atombombenabwurf. Oft kann ich den Gedanken aber gar nicht zu Ende denken, weil ich denke, dass das ja alles gequirlte Scheiße ist. So wie die unendliche Geschichte. Ja, tolles Buch, aber der Titel hält ja niemals das, was er verspricht. Ich habe es deswegen damals auch nicht bis zum Ende gelesen, damit wenigstens ein Funken Wahrheit darin steckt. Funken, gutes Stichwort. Rom sollte auch mal wieder angezündet werden, in meinem Kopf brennt es immer so munter.

 

Entschuldigung, machmal springe ich in den Gedanken, es ist ja alles nur in meinem Kopf. Manchmal auch in anderen Köpfen, aber das kann ich dann nicht so gut kontrollieren. Ich kann andere Menschen ohnehin nicht so gut kontrollieren, einige hören mir gar nicht mehr zu. Vielleicht, weil ich die Dinge nicht immer richtig ausformuliere sondern von einem Gedanken zum nächsten jage. So mit der Musik von Trentemöller, der Mann ist aus Dänemark. Zum Beispiel. Strände wie auf den Seychellen, da hat mein Onkel Häuser und der war mal Kreismeister. Ich bin hingegen auf Level 82, das erzähle ich auch gern jedem und wer dann fragt, worin, dem sage ich: In allem, ich bin in allem auf Level 82. Beachtlich, nicht wahr? Das ist für mich jetz nicht zusammenhanglos, ich denke nur schnell. Und, Zack, ist es dann auch schon wieder vorbei. Von Trentemöller zum Kreismeister im Bruchteil einer Sekunde – doch das ist ja auch nur in meinem Kopf.

 

Aber ich bin nicht repräsentativ, ich bin hin und wieder etwas lethargisch. Für diejenigen, die sich mit Fremdworten nicht auskennen: »Lethargisch« ist die elitäre Form von »faul«. So wie »Hipster« das andere Wort ist für »Zurückgeblieben«. Aber es gibt ja auch noch die Menschen, die, die immer können und wollen und auch sofort mit anpacken, wenn es drauf ankommt. »Oh, ihr braucht Hilfe beim Umzug? Ich habe Zeit und einen Transporter und arbeite im Asylantenheim, die kommen auch alle mit.« Die Gutmenschen pur, neben denen man nur schlecht aussehen kann. »Ich kann auch auf dein Kind aufpassen, ich hab‛ ja Pädagogik studiert und meine Nachbarin hatte auch schon drei Fehlgeburten und ich kann super Kuchen backen.« Solche Menschen meide ich, neben denen sehe ich immer schlecht aus. Ich stünde gern neben Frau Merkel oder neben Olaf Scholz, da bin ich in guter Gesellschaft, die denken sich ihre eigene Welt und da klappt dann alles. Ich wäre demnach auch ein guter Bürgermeister oder Bundeskanzler.

 

Im Grunde genommen ist meine Art zu leben wohl die einzig richtige: Ich kann alles, ich mache alles, aber nicht richtig. Und diesen Gedanken sollte man wirklich mal konsequent zu Ende denken. Wenn die Bundesregierung Waffen nur gedacht exportiert, dann passiert das alles gar nicht. Bis zu den Flüchtlingen, die dann gar nicht kommen, weil sie entweder nur in Gedanken fliehen oder eben gar nicht fliehen, also nicht einmal in Gedanken, weil es ja mit gedachten Waffen gar keinen Krieg gibt. Die Zwischenschritte muss mit den Ministern und Lieferungen muss sich jeder selbst denken. In jedem Fall sollte jedem klar sein: Das System funktioniert. Es funktioniert weltweit, alles findet nur in den Köpfen statt, wir denken uns unseren Teil und müssen uns weder fürchten noch das Haus verlassen. Wer unbedingt Reisen will, kann das ja trotzdem tun. In Gedanken. Allerdings funktioniert das alles auch in der umgekehrten Variante: Im Falle eines Flugzeugabsturzes heißt es dann Ruhe bewahren, dem Nebenmann fest in die Augen sehen und sagen: »Ihr Gehirn spielt Ihnen gerade einen üblen Streich: Schlagen Sie sich das alles hier mal aus dem Kopf« Und bislang konnte mir noch niemand das Gegenteil beweisen, wir nutzen ja auch nur einen Bruchteil unseres geistigen Potentials.

 

Es wäre also durchaus sinnvoll, sich mal ein paar Welten im Kopf aufzubauen und das Denken zu üben. Es muss nur mal ein Anfang gemacht werden. Ich denke mir da meinen Teil.

 

© Armin Sengbusch